Kulturpolitik – nice to have?

Wenn man den neuen «Report Soziokultur» der Stadt Zürich aufmerksam liest und dabei den Wortteil «Sozio» geflissentlich überliest, wird klar: Kulturpolitik ist nicht nice to have. Und: Kulturpolitik ist etwas, das langfristig auf eine nachhaltige Wirkung hinarbeitet, nicht auf Pflästerchen-Politik, nicht auf die Reparatur eines Lochs im Asphalt, sondern auf das Überdenken, ob und wo es wirklich eine Strasse braucht. Aus gutem Grund:

Kultur ist nicht etwas, das man an einer Auktion ersteigern und zu den anderen Trophäen an die Wand hängen kann. Muss man auch nicht. Kultur hat man so oder so. Es ist die Prägung, die du und ich im Laufe des Lebens erhalten haben. So gesehen ist Kultur für niemanden «nice to have». Wir haben nicht Kultur, die Kultur hat uns. So etwas wie «kulturfern» gibt es nicht. «Kulturfern» wird nur verwendet, um sich über andere zu stellen und ist somit auch Teil der eigenen kulturellen Prägung.

 

Durch diese Prägung erwerben wir uns Immunitäten und Affinitäten. Wir werden vielleicht immun gegen Kritik. Oder wir werden Kunstaffin. Wir saugen vielleicht unbewusst die mantra-artig wiederholten Botschaften wie «Ich bin doch nicht blöd», «Geiz ist geil» oder «Jeder ist seine Glückes Schmied» ins uns auf und verhalten uns entsprechend egoistisch, kündigen gar den Solidarvertrag mit der Gesellschaft und unseren Nächsten. Oder wir knüpfen ständig neue verpflichtende Verbindungen, weil wir das Gefühl verspüren, diesen Trends etwas Grossartiges entgegenhalten zu können.

 

Kunst, als Teil unserer Kultur, ist für mich – trotz all der Vereinnahmungsversuche durch die Wirtschaft – noch immer ein probates Mittel um auf eben diese Kultur des «Individualität» genannten Egoismus einzuwirken und die giftelnden Spaltpilze im Zaum zu halten. Kunst hält mir vor Augen, dass es nebst wirtschaftlicher Performance noch Wünsche und Träume gibt, dass da immer wieder jemand ist, der an meine Mitmenschlichkeit appelliert, mich mit etwas Schönem trösten, mit etwas Wildem aufrütteln oder mit einer Einsicht besänftigen will.

Kunst wirkt.

Wirkt verstörend, wenn sie uns mit unangenehmen Themen konfrontiert. Wirkt versöhnend, wenn sie zwischen uns vermittelt und einander verzeihen lässt. Wirkt integrativ, wenn sie uns zum Feiern zusammentrommelt. Wirkt sozial, wenn sie uns eine Plattform bietet, uns besser kennen- und schätzen zu lernen. Wirkt innovativ, wenn sie uns auf andere, neue Gedanken bringt. Wirkt begeisternd, wenn sie uns eine Alternative vor Augen hält. Mit der erwünschten Nebenwirkung, dass wir damit unsere Kultur «ändern».

Sprache prägt.

Heute ist es wieder absolut notwendig, unsere Willkommenskultur zu subventionieren und die Gesprächs- bzw. Sprachkultur zu fördern. Nicht nur, weil die Social Media-Diskussionen zu verschiedenen Hashtags und Hasstags in wahre Wut-Orgien ausarten. Auch weil es inzwischen amtlich ist: Ein Entscheid, den unser Bundesrat kürzlich getroffen hat, zeigt, wie Sprache Brücken zum Unvorstellbaren, Abwägigen und Absurden schlägt und unsere Kultur prägt: Die Schweiz soll neu auch Rüstungsmaterial in Länder exportieren können, in denen interne Konflikte herrschen. Allerdings mit einer Einschränkung: nur dann, «wenn kein Grund zur Annahme besteht, dass das auszuführende Kriegsmaterial im internen bewaffneten Konflikt eingesetzt wird». Dieses Geisteskonstrukt ist fast schon Kunst! Baute man die Dialoge eines ganzen Theaterstücks auf eben dieser Logik auf, das Publikum käme nicht mehr aus dem Kopfschütteln heraus, und der Veranstalter sähe sich mit einer Sammelklage aufgrund eines «kollektiven Schleudertraumas» konfrontiert.

 

Doch die Sache ist ernst: Es geht hier um «Rüstungsmaterial» mit dem Potenzial, Menschenleben auszulöschen. Hier wird mit entwaffnenden Worten bewaffnet. Wir leben in einer Kultur der beschönigenden Worte für beschmutzende Taten. Ist leider so.

 

Um auf diese Kultur der Winkelzüge und des Zynismus einzuwirken, braucht es eine ernsthafte, leidenschaftlich geführte Kulturpolitik.

Die Kultur, Kunst zu ermöglichen.

Dass ausgerechnet die puren Volkstribune von heute gemeinsam mit den ehemals Freisinnlichen seit längerem den Standpunkt vertreten, Kultur bzw. Kunst und deren Förderung seien nice to have und also nicht zwingend Staatsaufgabe, obwohl im Gesetz festgeschrieben, will mir nicht in den Kopf: Es war Cäsar, der sein Volk in schweren Zeiten mit Brot und Spielen bei Laune hielt. Und diese schweren Zeiten werden gerade herbeigeredet, sofern man der Schwarzmalerei zu Überfremdung, Verlust der eigenen Kultur und Souveränität und den aussterbenden Arbeitsplätzen Glauben schenken will. Aber statt die einem Wunschdenken entspringende, eigene Kultur zu fördern, erschöpfen sich Rechtsflüglige darin, andere, «fremde» Kultur zu verbieten. Als ob sich davon unsere eigene vermehren würde!

 

Aber auch die Linke hat Nachholbedarf. Nicht punkto Konzepte und Beschlüsse. Davon gibt es weiss Gott genug in den Schubladen. Sondern beim beherzten Engagement. Die Linke hat Angst, ja, es scheint ihr sogar peinlich zu sein, wenn sie jetzt – wo GAV, Gesundheit, Europa und die Welt am Abgrund stehen und ihr Wähleranteil vor den Discountläden vor Angst zittert – mit einem netten kleinen Kulturprogramm nicht nur Wahlkampf, sondern konkrete Politik betreiben wollte.

 

Kulturpolitik ist nicht nice to have, weil… Kultur nicht nice to have ist. Wir sind ihr ausgeliefert. Jeden Tag. In jeder Win-Win-Situation, in der es eben doch einen Verlierer gibt. Bei jeder Krankenkassenprämie, die uns ein wenig mehr in den Ruin treibt. Bei jedem neuen Sozialplan, jeder Umstrukturierung mit dem Ziel, die Performance für die Shareholder zu verbessern. Das ist unsere Kultur. Und das einzige, was wir ihr entgegenhalten können, ist die Kunst, auf die Kultur unserer Gesellschaft einzuwirken. Jetzt.